Abschied von Tobi
Grab eines Lakota |
Letzte Woche kam die traurige Nachricht. Leider nicht ganz unerwartet, denn Tobi hatte schon nicht gut ausgesehen, als ich ihm vor ungefähr zehn Jahren kurz über den Weg gelaufen bin. Ich hatte mir damals nicht viel dabei gedacht. Wer weiß, dachte ich, vielleicht erschrecken Leute ja auch, wenn sie meine Fresse sehen und noch den Philipp vom Humboldt im Kopf haben.
Das letzte Mal hat Tobi mich zu einem kleinen Wettkampf im Billiard mitgenommen, wo er sich recht wacker im Dreiband geschlagen hat. Danach hatte ich ihn mal gegoogelt und einen Menschen seines Namens entdeckt, der im Snooker als Amateur wohl recht weit oben mitspielt. Da war ich natürlich überzeugt, dass es sich um unseren Tobi handelte. War aber nicht so, wie sich jetzt herausstellte. Wenn ich es richtig sehe, gibt es überhaupt keine Spuren von unserem Tobi im Internet, was mich schon ein wenig schockiert hat. Ich wünsche Tobi im Nachhinein, dass diese digitale Unsichtbarkeit Ausdruck eines analogen Privatlebens ist und nicht eines einsamen.
Nun denn, Tobi hat sich nie in den Vordergrund gedrängt und vielleicht auch daher keine Onlineprofile angelegt. Aber da das Internet bekanntlich nicht vergisst, möchte ich Tobi hiermit ein digitales Denkmal setzen, natürlich sehr subjektiv.
Tobi ist in der neunten oder zehnten Klasse hängengeblieben und kam in meine Klasse, die D bei Frau Roth. Wir bekamen mehrere Sitzenbleiber, von denen einige als Ältere so richtig den coolen Larry heraushängen ließen. Nicht so Tobi. Ich hatte das Glück, dass er direkt hinter mir zu sitzen kam, so dass ich ihn ziemlich schnell kennenlernte. Recht still, aber, wie sich bald zeigte, sehr subversiv. Auf eine so angenehme Weise allerdings, dass kein Lehrer ihm je böse sein konnte. Wenn er bei irgendeiner Unachtsamkeit erwischt wurde, knipste er einfach sein breites Grinsen an, zuckte schuldbewusst die Schultern und alles war vergeben.
Tobi hat mich sofort schwer beeindruckt. Er war älter, erfahrener, aber dabei bescheiden und ungemein tolerant. Er liebte es, andere zu verarschen, und in vielen Dingen weiß ich bis heute nicht, ob er mir nun die Wahrheit erzählt oder etwas vorgeflunkert hat. Jedenfalls war ich sofort dabei, als er vorschlug, mal Billiard spielen zu gehen. Mein Freund Dirk und ich sind mit dem Fahrrad nachmittags in die Stadt, wo wir Tobi zu Hause abholten. Wir gingen dann zu Fuß Richtung Innenstadt, wo nicht weit entfernt ein Billiardsalon war. Auf dem Weg meinte Tobi, wir sollten doch mal eine Pennerbombe klarmachen (ein für Dirk und mich unbekannter Begriff). Also rein in die BP, Pennerbombe gekauft, und in abwechselnden Zügen in den nächsten zehn Minuten leergemacht. Eine Stunde Karambolage und plötzlich zeigte sich dann Wirkung. Dirk hat es gerade noch aus dem Laden geschafft, bevor er sich des Rotweines entledigen musste - ich konnte noch nach Hause radeln, wo mir dann das Gleiche blühte. Tobi hat sich am nächsten Tag diebisch gefreut.
Später nahm Tobi mich dann ins Icke mit - mein erster Kneipenbesuch, mein erstes Bier. Wieder mit Billiard, und Tobi brachte mir auch gleich Skat bei. "Drei Bock, drei Ramsch? Pfennig pro Punkt?" Ich, keine Ahnung, natürlich zugesagt, wollte ja nicht als kleiner Dörfler zurückstehen. So durfte ich Tobi dann auch seine Getränke bezahlen. Diebische Freude wieder.
So ging es dann weiter. Tobi nahm mich ins Okie mit. Hat mir vorher erzählt, dass sein großer Bruder da mal im Hinterzimmer ein paar Drogendealer überrascht hätte - die hätten eine Kanone auf dem Tische liegen gehabt. Ich hatte ziemlich die Hosen voll und geguckt, dass ich immer nah bei Tobi blieb, als er sich unbeeindruckt einen Weg durch die Menge dieser großen, wild aussehenden Männer bahnte. Ich war ein schmächtiger Sechzehnjähriger und das Okie halt voll von Oberstüflern, die damals noch richtig kernig aussahen, so im Stil von Easy Rider. Wer weiß, ob die Story mit der Kanone gestimmt hat, siehe oben. Auf jeden Fall war es aufregend und Tobi stieg in meinem Ansehen.
Tobi hatte immer wilde Ideen. Bei einem Ickeabend war er wohl mit Ebi, Fuzzy und Elmar und dachte, eine Mutprobe könnte den Abend schön auflockern. Also raus zu einem Baum, der da über einem Bach lag, und alle rüberklettern lassen. Tobi meinte dann, dass nur richtige Indianer so mutig sein können. Dieser Abend sollte in die Geschichte eingehen, denn immer mehr wollten sich danach zu den Indianern bekennen. Tobi war unumstritten als Häuptling - schließlich brauchte er nur etwas vorzuschlagen, und sofort fanden sich Leute, die mitmachen wollten. Die Indianer hingen immer zusammen - in allen Pausen, abends, an Wochenenden. Die meisten trugen etwas abgerissene Klamotten, sie rauchten, und sie hatten öfter mal einen sichtbaren Kater. Für die unteren Jahrgänge also eindeutig supercool. Direktor Schierschke warnte Neuzugänge davor, sich mit "denen" einzulassen, was als offizielle Bestätigung der Coolness verstanden wurde.
Schierschke wusste nicht, dass die Indianer nicht nur ein Haufen Chaoten waren. Tobi hat auch dafür gesorgt, dass das Indianertum mit Ehrenhaftigkeit verbunden war, wie folgender fiktiver Dialog bezeugt:
"Ich hab das mit eigenen Augen gesehen!"
"Nee, echt?"
"Wenn ich es dir sage!"
"Großes Indianerwort?"
"Na gut, ist nicht wahr..."
Ich weiß von Keinem, der je das Große Indianerwort fälschlich gegeben hätte. So heilig war es, dass es am Ende kaum noch eingefordert wurde - ähnlich einer Zeugenaussage unter Eid.
Tobi war in vieler Hinsicht ein natürlicher Anführer. Er war viel stärker als alle anderen. Im Schwimmunterricht, wo der Grahl uns unvorbereitet 40 Bahnen schwimmen lies, war er lange vor allen anderen fertig. In Leichtathletik konnte keiner mit ihm mithalten, er konnte gut Tennis spielen, Squash, Badminton, Tischtennis, Skifahren, Geräteturnen Alles Körperliche fiel ihm leicht. Wo andere trainieren mussten, machte er einfach mal so mit und war sofort besser.
Manche seiner Ideen grenzten ans Selbstzerstörerische. Wenn Feuer (Kartenspiel) zu harmlos wurde, führte Tobi ein, dass man den Kartenstapel ja auch hochkant halten konnte, weil das auf den Fingern mehr weh tut. Manchmal stieß er seinen Kopf gegen andere, und wenn die sich beschwerten - "eh, bist du bekloppt?", dann sagte er nur: "Wieso - das tut mir doch genauso weh." Grins. Was soll man auf solch entwaffnende Argumente erwidern? Auf Spiele, die mit Schmerzen enden konnten, sollte man sich mit Tobi aber lieber nicht einlassen, denn er gewann schließlich meistens. Also keine Kartenspiele, bloß nicht Händeabklatschen - da hatte man gegen ihn keine Chance und musst schließlich mit brennenden Fingern aufgeben.
Das Spielen um Geld geht nach meiner Wahrnehmung (erster Abend im Icke) auf Tobi zurück. Erst die Skatrunden, dann Doko-Nächte. Immer um Pfennige, was sich mit vielen Kontras und Res aber trotzdem läppern konnte. Was die braven Kinder aus B-D zaghaft begannen, wurde von den Jungs aus der A dann aber völlig übertrieben. Pfennigwerfen kam dazu und dazu das - natürlich von Tobi eingeführte - "Doppelt oder nichts". Ich glaube, Gero hatte in der Elf schließlich zweitausend Mark Schulden, so dass ein schwarzer Freitag ausgerufen werden musste. Alle Schulden durch Inflation vernichtet. Zu doof, dass ich kurz vorher noch irgendwem 40 Mark bezahlt hatte, fast ein monatliches Taschengeld. Was nicht so schlimm war wie der Gläubigerbesuch bei Fuzzy, der dabei Schallplatten, eine Pflanze und, wie man sagt, ein paar Lederstiefel verlor.
Ich kann kaum aufzählen, was ich alles zuerst mit ihm erlebt habe, neben besagten Ersterfahrungen mit Kneipen und Bier. Schnicken, Skat, Doko, Billiard, rückwärts vom 5-Meter-Brett. Über ihn habe ich Keith Jarrett kennengelernt, Santana, King Crimson, Novalis, UB40. Ich glaube, er hat mir den Herrn der Ringe empfohlen. Er hatte zuerst Ideen wie Fahrten zu Rock am Ring. Ohne ihn hätte ich vielleicht nie Italowestern so richtig auf den Radar bekommen - für die Dollar-Trilogie hat er uns ins Hitch geschleppt. Damals waren das "harte" Filme, und für sowas war er immer zu haben. Für eine der ersten Videonächte bei ihm hatte er dann auch Sachen wie Caligula und ähnliches - also Filme, für die wir eigentlich zu jung waren - aber er hatte ja "Connections" (große Brüder). Der letzte harte Film, der uns dann auch den Appetit auf Weiteres genommen hat, war Pasolinis 120 Tage von Sodom - er hatte wohl ein Dutzend von uns überzeugt, uns das im Kino anzutun. Nur ein paar haben es bis zum Ende geschafft, und selbst Tobi war kreidebleich, als er am Ende herauskam.
Da so etwas unsere "Extreme" waren, war unsere Schulzeit natürlich relativ harmlos. Die Indianer hatten zwar bei konservativen Lehrern einen schlechten Ruf, haben aber außer gelegentlichen Besäufnissen nichts Schlimmes angestellt. Sie sahen vielleicht etwas wild aus und taten in der Pause recht großspurig. Da gab es jedoch diesen Vorfall in Holzheim. Irgendwer in einer Rotte Indianer, berichtete man, spuckte an der Bushaltestelle gegen den Fahrplan. Da hielt ein Golf und drei Prolls stiegen aus. "Heh, hier wird nicht gerotzt." Und hauten dem Schuldigen eine runter. Die anderen fünf stellten sich drohend hinter ihn. Ein Proll sagte, das sei aber unfair, denn sie wären drei und die anderen zu sechst. Da schauten sich die Indianer nur an: "Stimmt, wir sind nur sechs", und machten lieber auf Rückzug.
Solche Stories gingen in die Folklore ein, wurden immer und immer wieder erzählt. Manche so oft ("Schwertwiese"), dass man am Ende kaum noch wusste, was man selbst erlebt hatte und was nicht. Es war eine Zeit großer Gemeinsamkeit. Man brauchte nur zu sagen, dass man sturmfrei hatte und alle Indianer vorbeikommen sollten, und schon hatte man die Bude voll mit zwei bis drei Dutzend Leuten. Hab ich auch mal gemacht, was in eine viertägige Party ausartete - denn es mussten ja am nächsten Tag auch Reste getrunken werden und dann war es so schön, das wir das Gleiche nochmal machten. Meine erstaunten Nachbarn haben meinen Eltern danach Unerwartetes berichtet: "die saßen da nachts alle rum und haben diskutiert!", und die abendliche laute Musik und Tanzerei war dann auch nicht mehr so wichtig. Harmlos halt.
Fotos gibt es davon - Elmar schlafend mit Käsestücken in der Nase. Wer kommt auf so eine Idee? Unser aller Häuptling.
Wie es sich für einen Häuptling gehört, geht er uns auch hier wieder voran - diesmal in die Ewigen Jagdgründe. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten völlig aus den Augen verloren, aber, Tobi, Du hast meine Jugend ganz entscheidend geprägt.
Ich werde Dich nie vergessen.
Großes Indianerwort.